Von den Gegenteilen

Blick auf eine blühende Bergwiese, auf der ein einzelner blühender Baum steht. Im Hintergrund türmt sich ein schneebedecktes Bergmassiv auf
                                                                                                                                                        
Bild: pexels.com / Pixabay
 

Wind und Baum

Auf einer fernen Bergwiese stand einsam ein alter Apfelbaum. Jahr für Jahr trug er schöne Früchte. Als er in einer mondlosen Maiennacht wieder in voller Blüte stand, bemerkte er, wie der Nord- und der Südwind über seiner Krone einen lustigen Tanz vollführten. Da wurde er von Liebe und Hass zugleich erfüllt und begann in die Nacht hineinzurufen:

„Dich, lauer Südwind, dich liebe ich über alle Maßen. Du umstreichelst meine zarten Blüten und brütest alsbald die Süße in meinen Früchten aus. Du bist die große Liebe meines Lebens. Nichts soll mich mehr von dir trennen.“

Dann aber verhärtete sich seine Stimme, und grimmig fauchte er in die Höhe, wo die Winde tanzten:

„Dich aber, rauer Nordwind, hasse ich aus den tiefsten Abgründen meines Herzens heraus. Du beraubst mich meiner anmutigen Blütenblätter und lässt ihre Fruchtknoten erfrieren. Du bist der Zerstörer meines Lebens. In meinen Worten schleudere ich dir meine ganze Abscheu entgegen.“

Da legten sich die Winde. Der Südwind senkte sich über den Apfelbaum, umhüllte ihn und entgegnete ihm mit trauriger Stimme:

„Baum, o Baum. Wie könnte ich deine Blüten umstreicheln und deine Früchte mit Süße beschenken, wenn ich mir selbst nicht die Kraft dazu im Liebestanz mit dem rauen Nordwind holen würde? Ohne seine Stärke wäre ich nichts als träge Schwüle, die über einer brütenden Landschaft liegt. Ich wäre nichts als laue Eintönigkeit und stumpfe Gleichförmigkeit. Was, o Baum, ist deine Liebe wert, wenn du gleichzeitig meinen Tänzer hasst? Ohne ihn bin ich nichts."

Da erhob sich der Südwind wieder und begann von Neuem einen wilden Tanz mit dem Nordwind. Der Apfelbaum aber schaute grimmig zu Boden und verstummte. Von da an trug er keine Früchte mehr.

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