Psalm der Erde

 

Das Cover des Buches "Psalm der Erde" von Wilhelm Hensler.

Während eines Besuchs bei Elsa reichte mir die alte Frau ein schmales Büchlein aus ihrem Bücherschrank. „Wilhelm Hensler – Psalm der Erde“ war darauf zu lesen. Der Aufmachung nach muss es schon älter gewesen sein. Als ich es in die Hand nahm und darin blätterte, stieg mir der typische Geruch antiquarischer Bücher in die Nase. „Das sind poetische Gedanken eines Schriftstellers, die sich ihm während Wanderungen durch seine Heimat im Schwarzwald in die Seele gelegt haben“, klärte mich Elsa auf. Ich schlug die erste Seite auf. Das erste Kapitel hieß „Der Berg“ und es begann so: „Das Unbeachtete, das Kleine, das Geringe, das Entrückte, das man draußen suchen muß vor den engen Stubenwänden, macht gerade so inbrünstig fromm. Und die wachsende Seele bedarf dieser sonst namenlosen Dinge, um ein Ganzes zu sein.“

Meine Freundin bemerkte sogleich, dass ich von diesem Einleitungssatz etwas irritiert war. „Liest sich ziemlich altmodisch, nicht wahr?“. Ich nickte, wohl mit einem Ansatz von Lächeln um den Mund. War es ein verlegenes Lächeln oder ein irritiertes? Vielleicht gar ein überhebliches? Ich weiß es nicht. Jedenfalls lächelte Elsa sogleich zurück. „Gell, so schreibt man heute doch längst nicht mehr.“ Da wurde aus ihrem Lächeln ein verhaltenes Lachen. Und das war ansteckend. „Nein“, fuhr sich sogleich fort, „du musst das Büchlein nicht durchlesen. Der Stil passt so gar nicht in unsere Zeit. Er ist viel zu volkstümlich und übermäßig romantisierend für uns heutige Menschen. Die meisten halten das nicht allzu lange durch, nachdem sie mit dem Lesen begonnen haben. Aber trotzdem ist es wichtig. Schau mal." Elsa nahm mir das Buch aus der Hand und fing an zu blättern. „Hier habe ich dir ein paar Stellen angestrichen. Das sind die Stellen, die wichtig sind. Die Goldperlen sozusagen. Sie genügen voll und ganz. Weißt du, das sind Sätze, die gehen direkt ins Herz und lassen es schwingen. Solche Texte können heilen, wenn man sie immer wieder fast mantraartig liest und ins Herz gleiten lässt. Durch die Resonanz von Natur, Wort und Seele kann man in eine verlorene Ganzheit zurückfinden. Das geht natürlich nur bei Menschen, die auf dieser Ebene resonanzfähig sind.“ Dann blickte sie mich mit ihren großen, blauen Augen lächelnd an. „Und du bist doch so einer, nicht wahr?“

Mit diesen Worten reichte sie mir das Büchlein wieder. Ich setzte mich an den Tisch und begann zu blättern. Nicht lange und ich stieß auf die erste unterstrichene Stelle im Text …

<zu den Goldperlen>


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