Dann aber ...

Zwei verschränkte Hände, die eine rote Rose halten, deren Blüte nach unten zeigt. Ein Beitrag von degriesch.de
Bild: pexels.com/KseniaChernaya

Aufgeschoben

Einst traf ich ein Kind. Mit trotzigem Blick sagte es: „Wenn ich erst groß bin, dann …“ Als ich es wieder traf, war es groß und saß müde auf einer Parkbank.

Dann traf ich einen Lehrling. Wutentbrannt rief er dem Meister entgegen: „Wenn ich erst ausgelernt habe, dann …“ Später traf ich ihn wieder. Er hatte ausgelernt und lungerte Tag und Nacht in verkommenen Spelunken herum.

Sodann traf ich eine Verliebte. Mit verklärtem Blick hauchte sie: „Wenn ich erst verheiratet bin, dann …“ Einige Zeit später begegnete ich ihr wieder. Sie war verheiratet und schob mit verhärmtem Blick alleine einen Kinderwagen durch die Stadt.

Kurz darauf traf ich ein Ehepaar gesenkten Hauptes durch den Wald spazieren. Mit müdem Ton in der Stimme brummte er: „Wenn erst die Kinder aus dem Haus sind, dann …“ Und sie nickte stumm. Jahre später sah ich sie wieder bei einem Spaziergang durch den Wald. Die Kinder waren aus dem Haus, und sie hatten sich nichts mehr zu sagen.

Schließlich traf ich einen alten Arbeiter, der am frühen Morgen an der Bushaltestelle wartete. Kaum verständlich murmelte er in seinen struppigen Bart: „Wenn ich erst in Rente bin, dann …“ Als ich ihn später wieder traf, war er in Rente und man warf ihm stumm Blumen ins offene Grab.

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