Herzrasen
Nur ein Tropfen
Eine Frau litt seit vielen Jahren unter einem heftigen Herzrasen. Sie ging von Arzt zu Arzt, aber keiner konnte ihr helfen und sie von dem Leiden befreien. Da hörte sie von einem alten Wunderheiler, der draußen in einem fernen Wald wohnen sollte. Sie machte sich auf den Weg und fand ihn schließlich in einer kleinen Hütte unter hohen Eichen wohnen.
„Weiser Mann“, sagte sie zu dem Alten, „ihr seid meine letzte Hoffnung. Mein Herz schlägt wie wild in meiner Brust und lässt mich seit Jahren nicht zur Ruhe kommen. Könnt ihr mich heilen?“ Der Mann lächelte und fragte sie, seit wann sie diese Beschwerden habe.
„Seit zwanzig Jahren“, gab die Frau zur Antwort und senkte dabei den Blick.
„Was war geschehen?“, fragte der Heilkundige weiter. Da stiegen der Frau Tränen in die Augen und sie musste bitterlich weinen.
„Ich hatte meinen Verlobten verlassen. Daraufhin verfiel er in Schwermut und nahm sich schließlich das Leben. Seither bin ich krank.“
Der Alte nahm die schluchzende Frau in den Arm und führte sie in den Garten, der hinter der Hütte angelegt war. Dort blühten die verschiedensten Blumen in reicher Farbenpracht. Stumm ging er mit ihr durch die Blumenbeete. Vor einem blieb der Mann stehen und zeigte mit der Hand über ein Meer dunkelblauer Blüten.
„Schau, das ist die Blume der verlassenen Liebhaber“, begann der Alte zu sprechen und führte dabei seine Finger sanft durch die dichtstehenden Blüten. „Man nennt sie Akelei, aber die weisen Menschen wissen, dass jede dieser Blumen aus der Träne eines verlassenen Menschen entstanden ist, als diese die Erde tränkte.“
Erstaunt sah die Frau in die blaue Blütenpracht und fragte, ob sie von dieser Pflanze einen Tee machen solle. Der Wunderheiler lachte. „Nein, das ist keine Blume, um Tee daraus zu kochen. Sie heilt durch das stumme Wort ihres Duftes.“ Der alte Mann bückte sich zu den Pflanzen hinab, nahm eine davon sanft zwischen seine Finger und schloss die Augen. Dann pflückte er sie und reichte sie der Frau, die mit ungläubigem Blick neben ihm stand.
„Schließe die Augen und rieche an ihr, dann wird sie dir ihre Botschaft schenken.“ Zögerlich führte die Frau die blaue Blüte an ihre Nase und schloss die Augen. Da nahm sie plötzlich vor ihrem inneren Auge ein blaues Licht wahr, das zu flackern begann und allmählich größer wurde. Und in dem blauen Licht zeichnete sich das gütig lächelnde Gesicht eines wunderschönen Engels ab. Dann vernahm die Frau eine zarte Stimme:
„Nimm dich nicht allzu wichtig. Du warst nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überquellen brachte. Und auch wenn es sicher ein sehr großer Tropfen war, so bist du für das Wasser, das schon in dem Fass war, nicht verantwortlich.“
Nach diesen Worten sah die Frau, wie das lächelnde Gesicht sich dem ihren näherte, und schließlich küsste der schöne Engel in aller Zartheit ihre Lippen. Und es war ihr, als wären es die ihres toten Liebhabers gewesen. Dann verschwand das Bild vor ihrem inneren Auge wieder, und nach einer Weile hörte sie den alten Mann an ihrer Seite sagen:
„Nimm diese Blume mit nach Hause. Immer, wenn dein Herz wieder zu rasen beginnt, dann rieche an ihr, und du kannst gewiss sein, es wird sich beruhigen.“ Mit diesen Worten führte der Wunderheiler die Frau zum Gartentor und verabschiedete sich. Was sie ihm schulde, wollte sie wissen.
„Wenn
es dir möglich ist, nichts weiter als ein Lächeln. Meine Seele nährt sich vom
Lächeln der Menschen, die mich nach Hilfe fragen.“ Da musste die Frau
tatsächlich lächeln, und der Alte lächelte zurück. Dann ging er wieder in seine
Hütte. Die Frau aber kehrte nach Hause zurück und tat so, wie es der Alte
geraten hatte. Und es half wirklich. Zwar schlug ihr Herz immer noch recht
schnell, aber das machte sie nun nicht mehr rasend.
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