Vom Mut
Knospe und Raupe
Es war an einem sonnigen Morgen zu Beginn des Monats Mai, als eine vielfüßige Raupe bei ihrem Spaziergang auf ein zartes Blümchen traf, dessen Knospe sich eben anschickte, zu erblühen. Etwas misstrauisch schaute die Raupe zu, wie sich ein schneeweißes Blütenblättchen nach dem anderen aus der blassgrünen Knospe entrollte. Neugierig kletterte die Raupe den dünnen Blütenstiel empor, bis sie die Knospe erreichte.
„Meine liebe Knospe“, begann sie zu sprechen, „überlege es dir gut, nun aufzubrechen. Weißt du, was dich erwartet?“
„Nein, das weiß ich nicht“, entgegnete die Knospe mit zarter Stimme.
„Aber ich“, sagte die Raupe und begann mit besorgtem Tonfall aufzuzählen: „Stürme gibt es hier draußen und Regen, bestimmt auch einmal Hagel, vielleicht nochmals eisigen Frost in der Nacht. Weißt du, was das heißt?“
„Nein, das weiß ich nicht“, sagte die Knospe erstaunt und streckte ein weiteres Blütenblättchen in die laue Luft. Die Raupe konnte das Verhalten der Knospe nicht verstehen und fing an, sie zu belehren:
„Liebe Knospe, dann höre mir gut zu: All deine Blütenblätter können noch heute zerstört werden. Noch heute können sie in alle Winde zerstreut sein. Eine Menschenhand kann dich pflücken, dann gehst du in wenigen Tagen in einer Vase stehend zugrunde. Überlege es dir also gut, was du jetzt tust.“
Da wurde die Knospe in der Tat nachdenklich und hielt mit dem Erblühen inne.
„Seltsam, was du da sagst, meine liebe Raupe. Ich bewundere dich um dein großes Wissen, denn ich weiß das alles nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass es hier drinnen dunkel ist und draußen das Licht ruft. Du wirst doch verstehen, dass mir daher all deine Einwände nicht so richtig einleuchten wollen. Ich danke dir für deinen Rat, doch lass mich doch bitte in Ruhe meine Blüte entfalten. Gehab dich wohl, liebe Raupe.“
Da
verkroch sich die Raupe in eine Blattachsel des Pflänzchens und wurde sehr
nachdenklich. Einen ganzen Tag lang und eine ganze Nacht sinnierte sie über die
Worte der Knospe. Dann hüllte sie sich in ein weißes, wollenes Gewand und
dachte einen weiteren Tag und eine weitere Nacht über das Gehörte nach. Und in
der Frühe des dritten Tages erhob sich plötzlich ein prächtig leuchtender
Falter von der Stelle, an der am Abend zuvor noch die Raupe in ihrem Mantel
eingeschlafen war. Er flog drei Kreise um die Blüte und flüsterte dabei: „Hab
Dank, liebes Pflänzchen. Du weißt nichts, aber deine Weisheit ist größer als
alles Wissen.“ Mit diesen Worten stieg der Schmetterling in den jungen
Frühlingsmorgen und ward nie mehr gesehen.
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