Vom Müssen
Irrfahrt
Einmal erzählte mir Elsa folgende Geschichte:
Letzten Sommer kam eine Frau zu mir in den Wald. Sie machte einen sehr schwermütigen Eindruck, wirkte zerknirscht und missmutig. Als ich sie fragte, wie ich ihr helfen könne, sagte sie: „Mir geht es gar nicht gut. Ich bin von meiner Familie geflohen, habe meine Stelle aufgegeben und bin kurzerhand auf eine Insel gefahren, wo eine Gemeinschaft spiritueller Menschen lebt, der ich mich anschloss. Das war vor einem Jahr. Nun bin ich hier.“
In diesem Menschen musste wohl vieles geschehen sein, dachte ich mir. Und so wollte ich sie fragen, ob sie mir von ihrer Lebensgeschichte berichten wolle. Ich brauchte die Frage gar nicht zu stellen. Die Worte sprudelten förmlich aus ihr heraus:
„Seit ich weiß, erwarteten alle von mir, dass ich etwas Bestimmtes tue: Mach das, tue dieses, denke so, handle so … Mein Leben war ein einziger Zwang, all die Erwartungen anderer zu erfüllen. Und ich folgte brav: Ich war ein artiges Kind, das man lobte. Ich war eine liebevolle Partnerin, der man Liebe schenkte, weil ich zuerst von meiner Liebe hergab. Ich war eine treue Ehefrau, nur um meinem Mann keinen Vorwand zu liefern, selbst untreu zu werden. Ich war eine umsorgende Mutter, weil Mütter nichts anderes als treusorgend sein können. Ich war eine fleißige Sachbearbeiterin, die immer danach trachtete, lieber mehr zu leisten, als zu wenig, um ja keine Kritik heraufzubeschwören. Und dann fand ich die spirituelle Gruppe im Internet. Die Leute dort hatten eine klare Botschaft für mich: Du musst gar nichts! Das befreite, innerlich. Aber dann wurde der Druck von außen zu groß und ich habe alles aufgegeben und bin zu dieser Gruppe gefahren.“
Dann schwieg die Frau, senkte den Kopf und begann zu weinen. Ich hielt ihr die Hand, reichte ihr ein Taschentuch und ließ sie ihre Tränen vergießen. Es brauchte eine ganze Weile, bis sie sich wieder gefasst hatte.
„Dort war anfangs auch alles gut. Alle waren so freundlich und verständnisvoll zu mir. Mir fiel eine Last vom Herzen. Es war alles harmonisch und zwanglos. Sie waren alle so liebevoll zu mir. Ich hatte das Gefühl, all die Menschen, die dort lebten, hätten gelernt, ihr Leben wahrhaft zu meistern. Man bot mir psychologische und spirituelle Hilfe an. Das waren Gruppensitzungen. Da war kein Guru oder so. Wir saßen in einem großen Kreis zusammen und sie ließen mich reden. Das tat so gut. Ich wollte auch so werden wie sie. Das sagte ich ihnen dann auch.
Daraufhin
gaben sie mir Ratschläge, zeigten mir Übungen, reichten mir Schriften zu lesen.
Sie sagten, ich solle mich so und so verhalten, solle dies und jenes lassen,
habe jene Gedanken zu meiden und mich auf andere zu fokussieren. Ich müsse zu meinem wahren Ich finden, sagten sie. Ich solle nur meiner inneren Stimme
folgen.
Anfangs war das spannend. Bald jedoch wurde es für mich zunehmend herausfordernd. Ich spürte etwas in und um mich, das ich von früher kannte. Da war wieder dieses „Du musst!“, das mich irritierte. Nach einer Weile sprach ich dieses Gefühl in der Gruppe an. Wieder waren sie verständnisvoll. Aber sie gingen nicht auf mich ein. Sie sagten nur, dass dies eine normale Gegenreaktion des „alten Ich“ sei. Ich solle aushalten und konsequent weitermachen. Ich muss also weitermachen, noch konsequenter als zuvor, dachte ich. Das tat ich dann auch. Aber von diesem Tag an spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Eines Nachts wachte ich aus einem Traum aus und schrie: „Gar nichts muss ich! Gar nichts muss ich!“ Kurze Zeit später packte ich meine Koffer und ging. Und nun bin ich wieder hier, genau da, wo ich meine Flucht begonnen habe, und alles ist beim Alten …“ Dann weinte sie, bitterlicher als zuvor.
Die Geschichte der Frau hat mich sehr bewegt. Ich lud sie ein, eine Weile bei mir zu bleiben. Das tat sie dann auch. Wir unternahmen jeden Tag Spaziergänge durch den Wald und lernten vieles kennen, Du weißt schon …
Mit diesem „Du“ meinte Elsa mich, der ich ihrer Geschichte aufmerksam gefolgt war. Ja, ich
wusste, was sie meinte, hatte ich doch vor Jahren schon eine ähnliche Begegnung
mit Elsa. Und so dachte ich zurück an unsere gemeinsame „Reise“ durch den
Degrieschenwald:
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