Waren sie denn nicht auch Kinder?

 

Die Gewalttäter von heute waren die Kinder von gestern.

Waren sie denn nicht auch Kinder?

An einem nasskalten Wintertag durch einen Wald zu gehen, ist nicht gerade einladend. Wenn man Elsa an seiner Seite hat, kann ein solcher Spaziergang aber durchaus zu einem wärmenden Erlebnis werden – für die Seele. So war es auch an jenem Sonntag im Januar, als die Schneeflocken die Reise zum Erdboden meist nicht überstanden und als kalte Wassertropfen in einen schon viel zu nassen Boden sickerten. Dick eingepackt drehten wir unsere Runde durch den Wald. Ein angeregtes Gespräch ließ uns die Unwirtlichkeit des Wetters schnell vergessen. 

Meine innere Verfassung war der Witterung angepasst, trüb, kalt und grau. Schon in der schlaflosen Nacht zuvor kreisten meine Gedanken immer wieder um das Wesen der Menschen, das sich in den letzten Jahren merklich verändert hatte. Mir schien es depressiver, verhärteter und aggressiver geworden zu sein. Ich sah immer mehr Hass auf den Feldern der menschlichen Gesellschaft aufkeimen und die Werte der Humanität nach und nach überwuchern. So sprach ich mit Elsa über meine Gefühle und Gedanken und fragte, was sie dazu meinte. Ihrem nachdenklichen Gesichtsausdruck nach sah sie die Lage wohl ähnlich wie ich. Nachdem sie eine Weile überlegt hatte, sagte sie:

„Es wird sich vieles ändern, in der Natur, in der Gesellschaft und im Menschen. Was du ansprichst, sind die Vorboten. Aber lass dich nicht irremachen. Auch die Knospen warten geduldig, wenn ein Sturm durch die Sträucher fegt.“ Dann schwieg meine Begleiterin wieder. Ihre Antwort leuchtete mir ein, befriedigte mich aber nicht. So erwiderte ich, dass der Hang zu Hass, Gewalt und Zerstörung einerseits beängstigend ist, andererseits aber auch in meiner Seele ungute Gefühle hervorrufe. Manchmal hätte ich das Gefühl, als wenn Hass ansteckend sei. Ich würde mich ertappen, wie auch in mir ein Hass den Hassenden gegenüber aufbricht. Das beunruhige mich sehr.

„Ja, das kann ich verstehen“, antwortete mir Elsa. „Man muss ganz genau hinsehen und die richtigen Fragen stellen. Sonst gerät man in eine sehr ungute Spirale und wird in den Ungeist der Zeit hineingezogen.“ Ich verstand nicht, was sie damit sagen wollte und fragte nach. Worauf soll ich hinsehen? Welche Fragen stellen? Elsa lächelte fast unmerklich. Dann sagte sie: „Schau nicht auf die anonyme Masse, die sich ereifert, hasst und zerstört. Schau auf den einzelnen Menschen, der sich so verhält. Nur so findest du die Lösung, wie du dich nicht von ihnen anstecken lässt. Oder denke dir diese Masse als einzelnen Menschen. Und dann stelle ihm die richtigen Fragen.“

Wie immer machte es Elsa ziemlich spannend. Aber schon wenige Augenblicke später klärte sie mich auf: „Stelle dir diesen Menschen vor und frage ihn, wie er sich gefühlt habe, als er noch ein kleines Kind war. Wie war das damals mit Mama und Papa, vielleicht auch mit Oma und Opa, mit Verwandten, mit Spielkameraden? Waren da auch schon Hass und Verbitterung? Schau dir den Menschen dann ganz genau an und du wirst sehen: Nachdem du ihm diese Fragen gestellt hast, wird er seinen Blick senken, denn er weiß, dass kleine Kinder das Gefühl des Hasses nicht kennen, auch er nicht. Was er damals aber kannte – und was die meisten Kinder von Geburt an kennen – ist das Gefühl der Angst. Wenn Kinder Ängste haben, dann sickern sie ganz tief in ihre Seelen hinein. Dort werden sie nach und nach zu einem unterirdischen See.“

Elsa blieb in einer Pfütze stehen, die sich in einer leichten Senke auf unserem Weg ausgebreitet hatte. „Mit der Zeit wird dieses Wasser faulig und stinkend. Die Pflanzen, die dort wachsen, müssen sich jedoch von ihm ernähren. Wenn sie später dann ausgewachsen sind, werden sie sein wie dieses trübe Wasser. Weißt du, was ich damit sagen will?“ Ja, ich verstand. Ängste der Kindheit verschwinden nicht, sie sinken ins Unbewusste. Und das Gefühlsleben, das sich beim erwachsenen Menschen später entwickelt, ist von diesem Wasser vergiftet. „Ja“, sagte Elsa, „den Hass, den wir heute an ihnen sehen, die Bosheit und Gewalt, sie haben ihren Ursprung im verletzten Kind von damals. Einem Kind, dem Hass fremd war, aber dem Angst sein kleines Herz zerdrückte.“ Mit einigen großen Schritten war meine Freundin aus der Pfütze herausgetreten und stand nun ganz nah bei mir.

„Wenn du dich also nicht von den unguten Gefühlen dieser Menschen anstecken lassen willst, dann stell dir dieses Bild vor, das Bild des kleinen Kindes, das mit seinen Ängsten alleine war und das für diese schmerzliche Situation nur eine Lösung kannte: Sie ganz tief in sich hinabsinken zu lassen. Du wirst ihr Handeln nicht gutheißen, du wirst es auch nicht akzeptieren, aber du wirst den Menschen verstehen. Wenn du so weit bist, dann bist du immun dagegen, von ihrem Hass angesteckt zu werden.“

Dann war unser kurzer Spaziergang auch schon zu Ende. Als wir uns verabschiedeten, lugte die Sonne für einen Augenblick hinter einer grauen Wolkenwand hervor. Auf dem Heimweg dachte ich lange über Elsas Worte nach. Als ich in die Straße zu meiner Wohnung einbog, legten sich mir plötzlich die Worte „Das Kind ist der Schlüssel“ in die Ohren. Die Worte schienen von der Seite zu kommen. Als ich mein Gesicht dorthin drehte, blickte ich auf eine große Plakatwand. Und ich sah …   

Daheim angekommen, saß eine junge Frau mit Gitarre auf meinem Sofa und sang ein Lied. Ich setzte mich zu ihr und hörte betroffen zu: 



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