An den Fäden der inneren Freiheit
An den Fäden der inneren Freiheit
Es war ein recht frischer Frühlingstag, die Eisheiligen waren nicht mehr weit. Wir trafen uns am Waldeingang zu einem Spaziergang. Elsa hatte ihre dicke Wollmütze fest über die Ohren gezogen und ihre Hände steckten in Handschuhen, die wohl aus der gleichen Wolle gestrickt waren wie diese. Die Begrüßung war nur kurz, und wir gingen Seite an Seite in den Wald hinein. Nach ein paar Takten Small Talk stellte ich ihr die Frage, die mich in den vergangenen Tagen immer wieder beschäftigt hatte: Warum sind heute so viele Menschen Marionetten? Marionetten von anderen Menschen, gesellschaftlichen Zwängen, inneren Leidenschaften, Ideologien.
„Was hast du denn gegen Marionetten?“, entgegnete Elsa ohne langes Nachdenken. Ich dachte, sie hätte meine Frage wohl missverstanden. Hatte ich eine falsche Metapher gewählt? Die alte Frau an meiner Seite lachte, als sie meinen wohl ziemlich irritierten Gesichtsausdruck bemerkte. „Ich weiß, was du meinst“, fuhr sie fort. „Das Bild der Marionette ist sehr ambivalent. Für gewöhnlich betrachtet man es nur von der Seite, die du gemeint hast. Marionetten sind fremdbestimmte Menschen. Die Fäden, an denen sie hängen, halten andere in der Hand – oder eben die inneren Schwächen und Unzulänglichkeiten. So betrachtet sind Marionetten unfreie Menschen, willenlose Werkzeuge anderer oder eigener Triebe. Man kann es aber auch anders sehen.“
Elsa bog seitlich in einen schmalen Pfad ab, der zu einer lichteren Stelle des Waldes führte, wo schon das erste zarte Grün zwischen den Baumstämmen schüchtern zu leuchten begann. Wie man denn Marionetten von einer anderen Seite aus betrachten könnte, fragte ich sie ungläubig. Elsa blieb stehen und lächelte mich fast bemitleidend an. „Geht es nicht darum, wer die Fäden in der Hand hält?“, fragte sie mich. „Wenn es Fremdes von außen ist oder seelische Unzulänglichkeiten von innen, die die Fäden lenken, ja dann kann man kein glückliches Leben führen. Was aber, wenn die Fäden mich so handeln lassen, dass es mir guttut und ich durch sie so sein kann, wie ich im Innersten wirklich bin?“
Verdutzt blieb ich stehen. Eine Marionette könne doch nicht die Fäden in der Hand haben, an denen sie selbst hänge, entgegnete ich ungläubig. „Ach, denk doch nicht so einsilbig“, erwiderte mir Elsa und ging unbeirrt weiter. „Marionette, Fäden und Hand sind keine getrennten Dinge, sie hängen zusammen und bilden eine Einheit. Nur mit Fäden und Puppenspieler wird die Marionette erst zur Marionette. Erst dadurch wird sie lebendig. Ohne sie ist sie tot. Mausetot. Und nun versuche, das auf den Menschen zu übertragen.“
Ich war verunsichert. So hatte ich das Bild bisher nicht betrachtet. Aber was heißt das für uns Menschen? Sollen wir gerne Marionetten sein? Das Gelenktsein akzeptieren, sich nicht gegen Fremdbestimmung wehren? Elsa blieb wieder stehen. „Ach, heute ist dein Denken aber ziemlich träge“, lachte sie. „So lass dir die Sache in anderen Worten erklären.“ Elsa ging weiter und ich folgte ihr. Unweit von uns öffnete sich der Wald in eine kleine Lichtung. Dann holte sie weit aus und sagte: „Wie die Marionette braucht auch der Mensch Fäden, um lebendig sein zu können. Diese Fäden gehören zu ihm. Wir alle haben solche. Nun kommt es darauf an, welche Hand die Fäden aufnimmt und uns lebendig werden lässt. Die Fäden also können nicht zum Problem werden, wohl aber die Hand, die sie greift. Nun überleg einmal: Wer oder was könnte diese Hand sein?“
Ich muss wohl auf dem Schlauch gestanden sein, wie man so salopp gerne sagt. Ich konnte einfach keine Antwort auf Elsas Frage finden. Als sie mich so ratlos dastehen sah, sagte sie in verständnisvollem Ton: „Schwere Kost, ich weiß. Schwer ist diese Kost aber nur, weil sie einen Sachverhalt von einer ganz anderen Seite aus betrachtet, als wir ihn für gewöhnlich wahrnehmen. Das verunsichert unser Denken, nicht wahr?“ Ich nickte und wartete darauf, dass Elsa weitersprach. Sie spannte mich nicht lange auf die Folter.
„Vieles kann für die Marionette zur Hand werden, die führt“. Meine Begleiterin nahm mich am Arm und wir gingen in langsamen Schritten über die Lichtung. „Das kann Gutes wie Schlechtes sein. Über das Schlechte haben wir ja schon gesprochen. Was aber kann uns eine gute Führung sein? Das kann etwas in uns oder außerhalb von uns sein. Es kann das Gewissen sein, die innere Stimme, das Ich, das Selbst – ach, dafür gibt es ja so viele Begriffe, nicht wahr? Es ist jedenfalls etwas in mir, von dem ich genau spüre, dass es das Gute und Wahre widerspiegelt. Dann kann es aber auch etwas Transzendentes sein, etwas Höheres, etwas, das man vielleicht heilig oder göttlich nennen kann, wenn man mag. Wenn sich jemand als Werkzeug Gottes betrachtet, dann ist er oder sie eine Marionette in der Hand Gottes und führt seine guten Werke aus.“
Ich hörte Elsa genau zu. Was sie sagte, klang einerseits schlüssig, überzeugte mich aber dennoch nicht vollkommen. Wenn man der inneren Stimme folgt, würde mir das einleuchten, so entgegnete ich. Sobald aber etwas Äußeres die Fäden in der Hand hält, sei man letztlich doch willenlos und nur ein ausführendes Werkzeug. „Ich verstehe dich“, antworte meine Begleiterin. „Was aber wäre, wenn es das Innen und das Außen in dem Sinne, wie wir es begreifen, gar nicht gibt? Wenn es auf irgendeine Art ein und dasselbe ist? Oder einmal das eine, ein andermal das andere? Wenn das Transzendente Teil meines tiefsten inneren Wesens ist? Wenn die Hand ebenso am Ende die Fäden greift, wie sie in der Marionette steckt? Starker Tobak, nicht wahr?“
Elsa lächelte. Wir blieben in der Mitte der Lichtung stehen und schauten zum Himmel empor, wo grauweiße Schauerwolken aufzogen. „Lass das einfach mal so stehen, was ich gerade gesagt habe“, sagte sie leise. „Angenommen es ist so, dass wir etwas unbegreiflich Gutem und Wahren die Führung in unserem Leben überlassen können, indem wir unsere Fäden, an denen wir hängen, vertrauensvoll in seine Hände legen, dann …“ Elsa hielt inne und schaute mich an, als wollte sie das Ende des Satzes von mir hören. Doch ich fand keine Worte. Da sagte sie plötzlich nur ein Wort, das eine Wort: „Freiheit“.
„Wenn man das begriffen hat und so lebt, dann lebt man in wahrer innerer Freiheit. Die Fäden verbinden mich mit meinem wahren Selbst und gleichzeitig mit dem höchsten Du. Was ich dann auch tue und wie ich auch handle, ich tue es aus meiner Seele heraus, aus meinem Herzen. Dann sind die Fäden keine Ketten mehr, sondern Seidenfäden der wahren Freiheit. Glücklicher kann kein Mensch sein.“
Wortlos gingen wir wieder in den Wald hinein und waren schon bald an unseren Ausgangspunkt angekommen. Die drohenden Wolken hatten sich auf dem Weg über den Wald aufgelöst und scheuen hellblauen Himmelsklecksen Platz gemacht. Nochmals nahm mich Elsa am Arm und führte mich an eine Hecke, die am Waldrand stand. „Schau einmal in die dichten Zweige hinein und beobachte, was geschieht“. Ich tat, was sie sagte, und dann …
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