Dann sucht euch Nischen!

Wenn Gefahr droht, sucht euch schützende Nischen

Bild: pixabay.com

Dann sucht euch Nischen!

Einmal waren wir auf unserem Gang durch den geheimnisvollen Degrieschenwald von einem Unwetter heimgesucht worden. Wie aus dem Nichts hatte sich eine schwarze Gewitterwolke über uns aufgebäumt, und unter mächtigem Blitzen und Donnern prasselte der Regen wie aus einem Sturzbach in die Bäume hinab. Nun, wir befanden uns ja in einem Zauberwald, und da dürfte es euch nicht verwundern zu hören, dass just in dem Moment, da der Platzregen begonnen hatte, sich über uns ein mächtiges Dach aus großen, breiten Blättern auftat. An diesen perlten alle Tropfen ab, sodass wir geschützt waren und trotz des mächtigen Regens trocken blieben. So stand ich mit Elsa mitten im Wald, und um uns herum füllte sich der Waldboden nach und nach mit großen Pfützen.

„Wohl dem, der bei so einem Unwetter einen sicheren Unterstand hat, nicht wahr?“ Die alte Frau an meiner Seite zog den Kragen ihrer dicken Jacke hoch und steckte ihre Hände tief in deren Taschen. Das fast schon tosende Rauschen des Regens hatte alles andere übertönt. Kein Singen der Vögel war mehr zu hören und kein Summen von Insekten. Doch Elsa schien plötzlich etwas zwischen den Baumstämmen, bei denen wir standen, erblickt zu haben. Sie deutete auf einen großen, moosbedeckten Steinbrocken, der dort aus dem Waldboden ragte. Er war in der Mitte gebrochen, sodass sich deutlich ein Spalt zeigte. In diesem bewegte sich etwas.

„Sieh mal, wer sich da verkriecht“, sagte Elsa mit einem Lächeln im Gesicht. Ich schaute genauer auf die Stelle am Stein, auf die sie mit dem Finger zeigte. Es brauchte eine Weile, bis ich erkennen konnte, wer sich da ein schützendes Plätzchen suchte. Es war ein großer Käfer, schwarz und mit einer Art Geweih auf dem Kopf. „Ein Hirschkäfer“ klärte mich meine Freundin auf. „Der weiß, wo es nun am sichersten ist“ lachte sie. Dann bückte sie sich, streckte ihren Kopf nach vorne und späte genauer in die Lücke im Stein. „Ach, schau an“, rief Elsa erstaunt, „da kommen ja noch mehr Käfer!“ Und tatsächlich: Nachdem der Hirschkäfer in der Spalte verschwunden war, sammelten sich immer mehr dieser Tierchen vor dem Eingang in die trockene Nische. Aber es waren nicht nur Hirschkäfer.

„Sieh mal, das sind ja ganz unterschiedliche Arten von Käfern! Ein Balkenschröter! – Und da: ein Blauvioletter Waldlaufkäfer! – Ein Ameisenbuntkäfer!“ Elsas Stimme wurde immer höher, so aufgeregt wurde sie. Sie erinnerte mich jetzt an ein kleines Kind, das zum ersten Mal eine neue Entdeckung in der Natur gemacht hatte. Aber die verschiedenen Käfer dürften für diese Frau nichts Neues gewesen sein. Wohl konnte sie sich immer wieder aufs Neue an ihnen erfreuen. Das berührte mich. Nach einer Weile richtete sie sich wieder auf und wandte sich mir zu.

„Die Käfer verhalten sich sehr weise, nicht wahr?“, fragte mich Elsa, mit einem für mich überraschend ernsten Ausdruck im Gesicht. Skeptisch wiegte ich mit dem Kopf leicht hin und her und entgegnete, ein solches Verhalten sei bei Käfern eher rein instinkthaft und kaum als weise zu bezeichnen. Elsa lächelte. „Natürlich“, antwortete sie leise. „Die Käfer folgen ihrem Instinkt. Und dennoch wird ihr Verhalten weise, wenn wir von ihnen lernen. Dann wächst in uns die Weisheit.“ Die Antworten meiner Freundin waren immer wieder herausfordernd – auch jetzt.

Elsa nahm mich am Arm und wir richteten den Blick wieder in den Wald hinein, wo es immer noch in Strömen regnete. „Wenn es um uns so richtig unwirtlich wird, dann suchen wir einen schützenden Ort. Ich habe das Gefühl, die Zeiten werden nun bald so, wie das Wetter jetzt gerade im Wald ist: stürmisch, nass und sehr ungemütlich. Da wird es Menschen geben, die sich darüber freuen und das Tohuwabohu gerne mitmachen. Manche gießen noch zusätzlich kübelweise Wasser übers Land. Andere ärgern sich über diese Leute und werden darüber wütend. Die Menschen bekämpfen sich und es gibt eine große Verwirrung. Wieder andere werden dadurch verängstigt und verkriechen sich. Von der Mitwelt isoliert, drohen sie, in eine schwere Depression zu verfallen. Wenn man die Botschaft der Käfer erkannt hat, dann muss das alles aber nicht so kommen. Zumindest nicht für jene, die Hass und Streit nicht mitmachen wollen.“

Meine Begleiterin warf nochmals einen Blick auf den gespalteten Stein, wo die Käfer einen sicheren Hort gefunden hatten. „Die Käfer machen es vor“. Elsa lächelte mich mit ihren großen, von vielen kleinen Falten schön umkränzten Augen an. „Hätte sich der Hirschkäfer alleine in diese Nische verkrochen, er wäre sicher irgendwann schwermütig geworden. Aber er hat viele andere Käfer mit sich genommen. Eng beisammen wärmen sie sich nun und tun einander gut. Der Hirschkäfer hat nicht nur seinesgleichen mitgenommen, er hat alle Käfer eingeladen, die auf der Suche nach Unterschlupf waren. Jetzt können sie sich voneinander erzählen, miteinander lachen, singen, tanzen. Und sich dadurch gegenseitig guttun. Das macht stark, das besänftigt ein unruhiges Gemüt, das schenkt Frieden in der Seele und Zuversicht im Herzen.“

Die alte Frau an meiner Seite sprach die Worte leise, aber dennoch eindringlich, so, dass sie dem Zuhörer tief in die Seele sinken konnten. Doch sie war noch nicht fertig. „Macht es wie die Käfer, wenn es bald ungute Zeiten geben sollte“, fuhr sie fort. „Es ist nicht die Zeit für Resignation. Schafft euch Räume, die immun sind gegen das Gift des Zeitgeistes. Setzt euch zusammen und erzählt einander viele kleine, aber gute Geschichten. Immer wieder und immer wieder neu. Nutzt dazu eine Fähigkeit, die nur ihr habt, und die euch keine Maschine stehlen kann: die humanitäre Intelligenz. Arbeitet an einer neuen, großen Erzählung für eine gute Zeit danach.“

Kaum hatte Elsa ausgesprochen, hörte der Regen unvermittelt auf. Plötzlich riss die Wolkendecke auf und die wärmenden Strahlen der Sonne spiegelten sich funkelnd und glitzernd auf dem nassen Waldboden, den Blättern und Blüten der Blumen und Sträucher – und auch auf dem Stein vor uns. In dessen Spalt regte sich das Leben. Nach und nach kamen die Käfer aus ihrem Versteck hervor und krabbelten in alle Richtungen davon. Ich meinte fast, sie dabei singen und lachen zu hören: 




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