Mutter Mond

 

MutterMond

Von der weißen Treppe und der blauen Blume.

Als ich mich an einem wolkenlosen Sommerabend von Elsa verabschiedete, schob sich gerade der Vollmond über die fernen Wälder am Horizont. Meine Freundin blickte stumm zu ihm hinüber. „Mutter Mond“, sagte sie leise, mit einem fast wehmütigen Klang in der Stimme. Nach einer Weile senkte sie den Blick und schloss die Augen. „Immer, wenn ich den Vollmond sehe, muss ich an meine schwermütigen Zeiten denken“, fuhr sie fast flüsternd fort. „Damals, als es mir sehr schlecht ging, hatte ich eines Nachts einen eigenartigen Traum. Ich stand auf einer Wiese und über mir leuchtete der Vollmond. Er goss sein silbernes Licht über das Land, das alle Farben auslöschte.

Dann sah ich plötzlich eine weiß Treppe vom Mond herab zu meinen Füßen schweben. Mir war, als hätte der Mond mich damit eingeladen, zu ihm hochzusteigen. Doch ich hatte Angst und trat einen Schritt zurück. Auf einmal merkte ich, wie all meine Sorgen, all mein Kummer und all meine Ängste aus dem Nachthemd, das ich trug, heraustraten und sich auf einzelne Treppenstufen setzten. Sie sahen traurig aus, aber bald fingen sie alle an, gemeinsam ein Lied zu singen. Dieses war so berührend und leises, dass es mir sehr ans Herz ging.

Dann sah ich oben am Ende der Treppe eine schöne Frau in silbernem Kleid stehen. Ich wusste: Das ist Mutter Mond. Sie sah auf all die Gefühle herab, die damals mein Herz so sehr belasteten, und die nun auf der Treppe wie im Chor eine himmlische Melodie summten. Da wurde auch die Frau von der Musik berührt und es stiegen ihr Tränen der Rührung in die Augen. Einige von ihnen fielen herab auf den Erdboden, manche ganz nah zu meinen Füßen. Plötzlich traf eine Träne mein Nachthemd auf Höhe der Brust. Sogleich entsprang daraus die Knospe einer Blume. Im Rhythmus meines Atmens öffnete und schloss sich die Blüte. Sie hatte eine tiefblaue Farbe und verströmte einen betörenden Duft.

So endete der Traum, und als ich erwachte, war es mir sehr seltsam zumute. Nach und nach keimten in meiner Seele die unguten und belastenden Gefühle wieder auf, aber in meiner Brust spürte ich das ruhige Atmen der blauen Blume, die sich mir wohl ums Herz gelegt haben musste.“

Elsa lächelte und blickte nochmals zum aufgegangenen Mond hinüber. Er war inzwischen in seiner ganzen Fülle über den Horizont gestiegen. Sein Licht hatte noch einen Hauch von Wärme des Sonnenlichts. Ihre Geschichte hatte auch mich berührt. „Nun wird es Zeit für dich, es wird gleich dunkel“, sagte Elsa. So verabschiedete ich mich und wollte gerade auf den Weg einbiegen, als sie noch sagte: „Glaube nicht, nur weil ich in deinen Augen eine weise Frau bin, könnten mich keine traurigen und belastenden Gedanken heimsuchen. Auch ich kenne solche gut. Ich weiß aber um Mutter Mond. Sie wohnt oben am Firmament und als blaue Blume tief in meiner Brust. Wenn ich daran denke, beginnen meine traurigen Gefühle ihren Gesang und in meiner Seele steigt Ruhe auf." Nach diesen Worten drehte sich Elsa um und kehrte in ihre Hütte zurück. Ich ging meines Weges, und vor mir stieg der Mond weiter am schon nachtblauen Himmel empor, während von Ferne eine Nachtigall dem müden Wald ihr Schlaflied sang … 




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