Vom Inneren Vogel
Flight of the Inner Bird - Yehezkel Raz / Sivan Talmor
Die Natur um uns herum schien müde zu werden. Die Sonne lag bereits in den goldenen Kissen, die ihr der Wald am fernen Horizont zurechtgemacht hatte, und die Luft brachte jene angenehme Kühle, nach der wir uns an diesem heißen Sommertag so sehnten. Von der nahen Lichtung her begann eine Nachtigall dem Wald ihr Schlaflied zu singen. Elsa horchte auf und blickte hinüber, von wo die Melodie des gefiederten Sängers kam. „Ein Vogel ist es“, sagte sie leise. „Es ist ein einziger Vogel. So wie in deiner Seele.“ Dann schloss sie die Augen und schwieg.
Wir saßen wie so oft an diesen schönen Sommerabenden vor Elsas Hütte auf der Bank. Die Nachtigall war zum alleinigen Sänger geworden. Die anderen Vögel waren verstummt. Sie sang ihre Strophen mal flötend, mal trillernd, aber immer mit einer langen Pause dazwischen. Es klang, als wartete sie auf eine Antwort. Ich musste wieder an Elsas Worte von eben denken, als sie vom einzigen Vogel in der Seele sprach.
„Man hört ja so oft den Begriff vom Inneren Kind“, sagte Elsa unvermittelt, und es schien, als wollte sie das Thema wechseln. Doch dem war nicht so: „Ja, wir alle haben ein Kind in unserer Seele, aber auch einen Vogel. Sie gehören zusammen, nur weiß das Kind oft nichts von seinem gefiederten Freund. Die Leute sagen, man müsse das Innere Kind finden, es befreien und zum Leben erwecken. Das stimmt schon. Nur, wie kann das Innere Kind das machen? Das geht nur, wenn es seinen Freund, den Inneren Vogel, wahrnimmt, ihn sucht und mit ihm fliegt, wenn es ihn gefunden hat. Wie die Nachtigall ruft er singend nach dem Inneren Kind und wartet immer wieder, ob er eine Antwort bekommt. Viele Menschen wissen zwar vom Inneren Kind, aber nicht vom Inneren Vogel, wo doch beide zusammengehören. Nur mithilfe des Vogels in der Seele kann das Innere Kind sich erheben und sich aus alten Verstrickungen befreien. Deshalb sollte man sich stets bewusst sein: Wer seinem Inneren Kind helfen will, muss auf die Rufe des Inneren Vogels hören. Wie man das macht?“
Elsa
schaute wieder zur Lichtung hinüber, die sich langsam mit den Schatten der
Bäume zudeckte. Die Nachtigall sang unbeirrt weiter, und der Wald war wie eine
Kathedrale geworden, in der ihre klaren Töne widerhallten. „Vielleicht, indem
man in die Stille zwischen den Strophen hineinhört“, gab sie selbst die Antwort
auf ihre Frage. „Vögel singen in Strophen. Zwischen ihnen ist Stille. Sie mag
einmal kurz sein, einmal lang. Jedenfalls findet den Inneren Vogel am besten jener,
der in die Stille hineinhorcht, die vom Gesang eingerahmt wird.“
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